Anderweitige Rechtshändigkeit

Gemäß Art. 19 Abs. 1 EuEheVO hat das später angerufene Gericht das Verfahren von Amts wegen auszusetzen, wenn bei einem Gericht eines anderen Mitgliedstaates der EU (Ausnahme Dänemark) Anträge auf Ehescheidung, Trennung ohne Auflösung des Ehebandes oder Ungültigerklärung einer Ehe zwischen denselben Parteien gestellt wurden, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts geklärt wurde. Das später angerufene Gericht weist den Antrag wegen der entgegenstehenden ausländischen früheren Rechtshängigkeit ab, sobald das zuerst angerufene Gericht seine Zuständigkeit rechtskräftig bejaht hat (Art. 19 Abs. 3 EuEheVO). Eine Anerkennungsprognose ist nicht erforderlich. Es gilt das Prioritätsprinzip.

Wann ein Gericht als angerufen gilt, regelt Art. 16 EuEheVO. Art. 16 trägt den unterschiedlichen Verfahrensordnungen der Mitgliedstaaten Rechnung. Für Verfahren in Mitgliedstaaten, in denen es auf die Zustellung an den Antragsgegner ankommt (wie z.B. Deutschland), ist der Anrufungszeitpunkt nach Art. 16 lit. a) EuEheVO zu bestimmen. Hiernach kommt es auf die Anhängigkeit bei Gericht an, sofern der Antragsteller alles Erforderliche getan hat, damit die Zustellung beim Antragsgegner bewirkt werden kann.

Bei Verfahren in Mitgliedstaaten, in denen die Zustellung an den Antragsgegner vor Einreichung bei Gericht bewirkt werden muss, ist auf den Zeitpunkt der Übergabe der Antragsschrift an den Antragsgegner abzustellen, sofern der Antragsteller alle ihm obliegenden Maßnahmen trifft, um die Antragsschrift bei Gericht einzureichen.

Welche die nach Art. 16 lit. a) und b) jeweils erforderlichen Maßnahmen sind, ist den jeweiligen Verfahrensordnungen des Gerichtsstaates zu entnehmen.

Die durch den zeitlich früheren Antrag bewirkte Rechtshängigkeitssperre tritt nicht nur bei Identität der Verfahrensgegenstände ein, sondern auch, wenn aus Sicht des deutschen Prozessrechts in verschiedenen Mitgliedstaaten streitgegenständlich unterschiedliche Verfahren rechtshängig sind. Es reicht aus, wenn die betreffenden Verfahren dem sachlichen Anwendungsbereich der EuEheVO unterfallen.

2. Beachtung ausländischer Rechtshängigkeit nach nationalem Recht

Außerhalb des Anwendungsbereichs der EuEheVO – z.B. bei konkurrierender Rechtshängigkeit eines Verfahrens vor einem Schweizer Gericht – ist die ausländische Rechtshängigkeit analog § 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO zu prüfen. Im Gegensatz zu Art. 19 EuEheVO ist für die Beachtung ausländischer Rechtshängigkeit analog § 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO Identität der Verfahrensgegenstände erforderlich. Ein beispielsweise im Ausland eingeleitetes Ehetrennungsverfahren steht damit einem im Inland eingeleiteten Scheidungsverfahren nicht entgegen.

Ob und wann Rechtshängigkeit im Ausland eingetreten ist, beurteilt sich nach der lex fori des ausländischen Gerichts.  Da manche ausländische Rechtsordnungen in zeitlicher Hinsicht die Rechtshängigkeit bereits mit dem Einreichen der Antragsschrift annehmen, kann es vorkommen, dass ausländische Rechtshängigkeit ein inländisches Scheidungsverfahren blockiert, obwohl der Scheidungsantrag des ausländischen Verfahrens später zugestellt wurde als derjenige des inländischen Verfahrens.

Ausländische Rechtshängigkeit steht einem inländischen Verfahren aber nur dann entgegen, wenn das ausländische Urteil voraussichtlich anerkannt wird (sog. Anerkennungsprognose). Sofern die Anerkennung nicht staatsvertraglich geregelt ist, richtet sie sich nach § 109 FamFG. Hiernach ist zu prüfen, ob die deutschen Gerichte bei spiegelbildlichen Voraussetzungen international zuständig wären und ob das verfahrenseinleitende Schriftstück ordnungsgemäß zugestellt wurde (Gewährung rechtlichen Gehörs). Selbst wenn alle Voraussetzungen für eine Beachtung ausländischer Rechtshängigkeit hiernach erfüllt wären, bedeutet dies nicht zwangsläufig die Abweisung eines im Inland gestellten Antrages als unzulässig. Vielmehr kann das Gericht das Verfahren insbesondere dann aussetzen, wenn die Anerkennungsprognose unsicher ist und Nachteile dadurch entstehen könnten, dass ein zunächst als anerkennungsfähig erachtetes Urteil am Ende doch nicht anerkannt wird.