Internationale Zuständigkeit

Das Internationale Sorgerecht umfasst grundsätzlich auch die klassischen Sorgerechtskonflikte bei grenzüberschreitenden Sachverhalten und Umgangsfragen mit Auslandsberührung. Ein wesentliches Gebiet ist zudem der Bereich der zivilrechtlichen Aspekte Internationaler Kindesentführung. Im international privatrechtlichen Kontext bedeutet Kindesentführung das widerrechtliche Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes in einem anderen Land als seinem gewöhnlichen Aufenthalt.

Die kollisionsrechtliche Regelung der internationalen Zuständigkeit für Verfahren zur elterlichen Verantwortung ergibt sich nicht aus einer einheitlichen Norm, sondern aus einem gestuften System supranationaler Rechtsquellen und nachrangig aus dem autonomen Recht. Einschlägige Rechtsgrundlagen sind in dieser Reihenfolge:

  • Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung vom 25.10.1968 – HKiEntÜ – (Art 12 und 16) – zum Teil überlagert durch die EuEheVO (s.u.) –,
  • EuEheVO – (Art. 8 bis 15, 20), anwendbar seit dem 01.03.2005
  • Haager Übereinkommen über die Zuständigkeit der Behörden und das anzuwendende Recht auf dem Gebiet des Schutzes von Minderjährigen vom 05.10.1961 – MSA – (Art. 1, 4, 8 und 9),
  • Haager Übereinkommen über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern vom 19.10.1996 – KSÜ – (Art. 5 bis 12) - anwendbar ab dem 01.01.2011
  • autonomes Recht: § 99 FamFG

Der Vorrang des HKiEntÜ ergibt sich gegenüber dem MSA aus Art. 34 HKiEntÜ. Im Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten der EuEheVO ist das HKiEntÜ der VO gegenüber nachrangig (Art. 60 lit. e) EuEheVO), wird aber nicht verdrängt , sondern modifiziert bzw. ergänzt. Im Verhältnis zu den übrigen Vertragsstaaten des HKiEntÜ verbleibt es bei dessen Vorrang. Die Subsidiarität des § 99 FamFG folgt aus dem Grundsatz des Vorrangs supranationaler Regelungen vor dem autonomen deutschen Recht (Art. 97 Abs. 1 FamFG).

Dieses gestufte System erfordert für jedes Verfahren zur elterlichen Verantwortung die vorrangige Prüfung, ob der konkrete Verfahrensgegenstand in den Anwendungsbereich des HKiEntÜ fällt. Bei Vorliegen eines in den Anwendungsbereich des HKiEntÜ fallenden Verfahrensgegenstandes ist ein eventueller Vorrang der EuEheVO (s.u. Rdn. 96) zu beachten. Fällt der Verfahrensgegenstand nicht in den Anwendungsbereich des HKiEntÜ, ist zunächst die Anwendbarkeit der EuEheVO zu prüfen (bis zum 28.02.2005 stattdessen die Anwendbarkeit der VO (EG) Nr. 1347/2000). Das MSA kommt praktisch gesehen hingegen nur noch bei der Anerkennung von Sorgerechtsentscheidungen aus der Türkei zur Anwendung, wird aber in den Regelungen zur Internationalen Zuständigkeit von der EuEheVO weitestgehend verdrängt. Ebenso wird - was Fragen der Zuständigkeit angeht - das KSÜ durch die EuEheVO verdrängt (Art. 61 EuEheVO). Vereinfacht gesagt bestimmt sich in der Regel die internationale Zuständigkeit in Verfahren über die elterliche Verantwortung nach der EuEheVO. Nur wenn sich die internationale Zuständigkeit nicht aus der EuEheVO ergibt, ist die Zuständigkeit nach dem KSÜ zu prüfen, welches wiederum zwischen den Vertragsstaaten des KSÜ das MSA (vgl. Art. 51 KSÜ) verdrängt. Ergibt sich auch hieraus keine internationale Zuständigkeit, ist die autonome Regelung in § 99 Abs. 1 FamFG  einschlägig.

1. HKiEntÜ

Gegenstand des Übereinkommens sind die widerrechtliche Verbringung eines noch nicht 16 Jahre alten Kindes von einem Vertragsstaat  in einen anderen Vertragsstaat sowie das widerrechtliche Zurückhalten eines Kindes in einem Vertragsstaat, in welchen es rechtmäßig aus einem anderen Vertragsstaat – z.B. im Wege vereinbarten Umgangs – gelangt ist. Die Definition der Widerrechtlichkeit i.S. des HKiEntÜ findet sich in Art 3–5 des Übereinkommens: Sie ist dann gegeben, wenn das Recht zur alleinigen Sorge oder das Mitsorgerecht verletzt wird, welches nach dem Recht des Vertragsstaates besteht, in welchem das Kind zuletzt seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Als Mitsorgerecht in diesem Sinne gilt auch das Mitspracherecht eines Elternteils in wichtigen Fragen der Personensorge und der Aufenthaltsbestimmung.

Das HKiEntÜ entzieht in Kindesentführungsfällen den Gerichten des Zufluchtsstaates die internationale Zuständigkeit für eine Sachentscheidung über das Sorgerecht und belässt diese bei den Gerichten des Herkunftsstaates (Art. 16 HKiEntÜ). Hingegen sind die Gerichte des Zufluchtsstaates für den Erlass der Entscheidung über die sofortige Rückgabe des Kindes international zuständig und müssen diese grundsätzlich ohne nähere Prüfung des Kindeswohls treffen (Art 12 HKiEntÜ).  Die Anwendung der Ausnahmeklauseln in Art 13 und 20 HKiEntÜ ist nur beim Vorliegen ungewöhnlich schwerwiegender Beeinträchtigungen des Kindeswohls, die sich als besonders erheblich, konkret und aktuell darstellen, gerechtfertigt. Härten für den entführenden Elternteil begründen in der Regel keinen solchen Nachteil; die mit der Trennung von dem entführenden Elternteil verbundenen Beeinträchtigungen des Kindeswohls können meist dadurch vermieden werden, dass der entführende Elternteil gemeinsam mit dem Kind zurückkehrt.  Besonderheiten gelten allerdings für gegenläufige Rückführungsanträge: Hier ist eine nähere Kindeswohlprüfung geboten.

Das Abkommen schreibt allen Vertragsstaaten die Einrichtung sog. zentraler Behörden vor, die den Antragsteller zu unterstützen haben. Für die Bundesrepublik Deutschland ist dies das Bundesamt für Justiz (§ 3 IntFamRVG). Die gerichtliche Zuständigkeit für die nach dem HKiEntÜ zu treffenden Rückführungs-, Umgangs- und Anerkennungsentscheidungen sowie Vollstreckbarkeitserklärungen ist konzentriert auf das FamG am Sitz des OLG, in dessen Bezirk das Kind sich aufhält, hilfsweise das Bedürfnis der Fürsorge besteht; dies gilt völlig unabhängig davon, ob anderweitig die Ehesache anhängig ist oder nicht (§§ 11, 12 IntFamRVG).

Bei widerrechtlicher Verbringung eines Kindes aus Deutschland in einen anderen Vertragsstaat besteht die Möglichkeit, das Rückführungsverfahren durch einen Antrag beim Bundesamt für Justiz einzuleiten. Dazu können bei diesem  entsprechende Antragsformulare angefordert und – nach entsprechender Ausfüllung – dort zur Weiterleitung an die Zentrale Behörde des Vertragsstaates, in welchen das Kind entführt worden ist, wieder eingereicht werden.

Zu den weiteren Einzelheiten des HKiEntÜ

2. EuEheVO

Die EuEheVO ist am 23.12.2003 im Amtsblatt der EU verkündet worden  und damit in den Mitgliedstaaten unmittelbar geltendes Recht. Ab dem 01.03.2005 ist sie anwendbar. Die in der bisherigen VO (EG) Nr. 1347/2000 geregelte Rechtsmaterie findet in der neuen VO ihre Neuregelung – zu Ehesachen praktisch unverändert, zur elterlichen Verantwortung erheblich geändert. Die Artikelnummerierung der neuen VO stimmt mit der bisherigen VO nicht mehr überein; dies gilt auch für sachlich unveränderte Regelungen.

Der Anwendungsbereich der EuEheVO erfasst in erheblich weiterem Umfang als die VO (EG) Nr. 1347/2000 Verfahren, welche die elterliche Verantwortung betreffen:

Unter den Begriff »elterliche Verantwortung« fallen insbesondere die in Art. 1 Abs. 2 a) bis e) EuEheVO genannten Zivilsachen, d.h. z.B. neben dem Sorgerecht das Umgangsrecht (Art. 1 Abs. 2 a) EuEheVO), Vormundschaft, Pflegschaft (Art. 1 Abs. 2 b) EuEheVO), die Unterbringung (Art. 1 Abs. 2 d) EuEheVO) und z.B. auch die Vermögensfürsorge und hierauf bezogene Schutzmaßnahmen (Art. 1 Abs. 2 e) EuEheVO). Dementsprechend weit definiert Art. 2 Nr. 7 EuEheVO den Begriff elterliche Verantwortung als die Gesamtheit der Rechte und Pflichten, die einer natürlichen oder juristischen Person durch Entscheidung oder kraft Gesetzes oder durch eine rechtlich verbindliche Vereinbarung betreffend die Person oder das Vermögen eines Kindes übertragen wurden. Die EuEheVO gilt demnach insbesondere auch dann, wenn Fragen der Personen- oder Vermögensfürsorge eines Kindes nicht im Zusammenhang mit einer Ehesache stehen, sowie auch für Kinder, deren Eltern nicht miteinander verheiratet sind. Dies gilt sowohl für Antrags- als auch für Amtsverfahren.

Art 8 Abs. 1 EuEheVO stellt grundsätzlich auf den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes ab, Art 9 bis 15 enthalten weitere Anknüpfungen – s.u. Rdn. 98 ff.

In Bezug auf das HKiEntÜ, welches grundsätzlich weiter anwendbar bleibt, normiert Art 60 lit. e EuEheVO im Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten der EuEheVO den generellen Vorrang dieser VO gegenüber dem HKiEntÜ. In Fällen der Kindesentführung von einem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat gilt eine teilweise abweichende Regelung zur internationalen Zuständigkeit für Entscheidungen über die elterliche Verantwortung (Art. 10 VO EuEheVO) – Art 16 HKiEntÜ wird insoweit verdrängt. Wie sich jedoch aus Art. 11 Abs. 1 und 2 sowie Erwägungsgrund 17 EuEheVO ergibt, bleiben Rückgabeanträge und -entscheidungen auf der Grundlage und nach der Zuständigkeitsregelung des Art 12 HKiEntÜ weiterhin möglich. Im Übrigen enthalten Art. 2 Nr. 11 und Art 11 Abs. 2–8 EuEheVO ergänzende Regelungen zur Definition der Widerrechtlichkeit und zum gerichtlichen Verfahren.

Die Regelung der EuEheVO zur internationalen Zuständigkeit für Verfahren, welche die elterliche Verantwortung betreffen, findet sich in Art. 8 bis 10 – ergänzt durch Art. 11 Abs. 1 und 2 sowie durch Art. 13 – und in Art. 12 der VO: Art. 8 normiert die Grundsatzanknüpfung, Art. 9, 10 und 12 regeln spezielle Anknüpfungen für bestimmte Teilbereiche.

a) Grundsatzanknüpfung

Da die EuEheVO den Begriff der elterlichen Verantwortung in Abkehr vom bisherigen Recht und unter Abkopplung von der Ehesache weit gefasst definiert, kommt die bisherige Annexkompetenz des Ehegerichts als Grundsatzanknüpfung für Sorgeverfahren nicht mehr in Betracht. Nach Art 8 Abs. 1 bestimmt sich die internationale Zuständigkeit für Verfahren, die die elterliche Verantwortung betreffen, grundsätzlich und mit einzigem Anknüpfungspunkt nach dem gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes in einem Mitgliedstaat. Die Staatsangehörigkeit spielt bei dieser Anknüpfung – im Gegensatz zum nachrangigen autonomen Kollisionsrecht (§ 99 Abs. 1 Nr. 1 FamFG) und zum ebenfalls nachrangigen MSA (vgl. dort Art. 3 und 4) – keine Rolle. Selbst bei übereinstimmender Staatsangehörigkeit aller am Verfahren Beteiligter ist der gemeinsame Heimatstaat nicht zuständig, wenn das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat hat. In einem solchen Fall kommt die Zuständigkeit des Heimatstaats allenfalls im Wege der Prorogation in Betracht, die jedoch nur unter den besonderen Voraussetzungen des Art. 12 EuEheVO zulässig ist (s.u.).

Dem Begriff des gewöhnlichen Aufenthaltes kommt eine zentrale Bedeutung zu. Er ist autonom auszulegen und im Hinblick auf den kindschaftsrechtlichen Bezug nicht zwingend deckungsgleich mit dem Begriff des gewöhnlichen Aufenthaltes erwachsener, natürlicher Personen in anderen EU-Verordnungen. Der gewöhnliche Aufenthalt eines Kindes ist der Ort, an dem es sich nicht nur schlicht aufhält, sondern eine fortschreitende Integration in ein soziales und familiäres Umfeld zu erkennen ist, was auch eine gewisse (nicht pauschalierbare) zeitliche Aufenthaltsdauer voraussetzt.  Bei einem Kindergartenkind sind Integrationselemente wie Kindergartenaufenthalt, Sport- und Freizeitveranstaltungen, Sprache und Familie sicherlich leichter festzustellen als bei einem Säugling, dessen Mutter gemeinsam mit ihm den Aufenthalt wechselt und sich am neuen Aufenthaltsort erst wenige Tage aufhält. In diesem Fall werden deshalb wohl auch die Gründe der Mutter für den Umzug und ihre sozialen und familiären Bindungen sowie ihre kulturelle Herkunft zur Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthaltes heranzuziehen sein, weil das Kind selbst noch zu klein ist, um derartige integrative Elemente aufzuzeigen.  Maßgeblicher Zeitpunkt zur Ermittlung des gewöhnlichen Aufenthaltes des Kindes ist der Zeitpunkt der Antragstellung. Eine Verlegung des gewöhnlichen Aufenthaltes nach Antragstellung lässt die einmal begründete Zuständigkeit aufgrund des alten Aufenthaltsortes unberührt (Grundsatz der perpetuatio fori).

Ist kein gewöhnlicher Aufenthalt des Kindes festzustellen, reicht zur Begründung der internationalen Zuständigkeit eines Mitgliedstaats die bloße Anwesenheit des Kindes in diesem Staat aus (Art. 13 Abs. 1 EuEheVO). Dasselbe gilt für Kinder, die Flüchtlinge sind (Art. 13 Abs. 2). Die Möglichkeit einer Prorogation bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 12 EuEheVO bleibt unberührt.

b) Sonderanknüpfungen

Wie sich aus dem Vorbehalt in Art. 8 Abs. 2 EuEheVO ergibt, normiert die VO für drei besondere Teilbereiche spezielle, von der Grundsatzanknüpfung in Art. 8 Abs. 1 abweichende Zuständigkeitsregelungen. Danach besteht bei Vorliegen besonderer Voraussetzungen ausnahmsweise die Zuständigkeit eines Mitgliedstaats, in welchem das Kind keinen gewöhnlichen Aufenthalt hat:

aa) Abänderung einer Umgangsentscheidung – Art. 9 EuEheVO –

Eine in einem Mitgliedstaat ergangene Entscheidung über das Umgangsrecht kann nach rechtmäßigem Umzug des Kindes in einen anderen Mitgliedstaat dort erst nach Ablauf von drei Monaten abgeändert werden, wenn der umgangsberechtigte Elternteil im Herkunftsmitgliedstaat verblieben ist. Bis zum Ablauf dieser Frist bleibt die Abänderungszuständigkeit des Herkunftsmitgliedstaats aufrechterhalten (Art. 9 Abs. 1).

Was unter Umgangsrecht im Sinne der VO zu verstehen ist, beschreibt Art. 2 Nr. 10 EuEheVO näher. Die vorübergehend aufrechterhaltene Zuständigkeit des Herkunftsmitgliedstaats erlischt vorzeitig bei rügeloser Einlassung des umgangsberechtigten Elternteils in einem bereits vor Ablauf der Drei-Monats-Frist im Aufenthaltsmitgliedstaat betriebenen Abänderungsverfahren (Art. 9 Abs. 2).

Die Zuständigkeitsregelung in Art. 9 EuEheVO bezieht sich nur auf Entscheidungen zum Umgang im Herkunftsmitgliedstaat, nicht auch auf Umgangsvereinbarungen. Was unter einer Entscheidung im Sinne der VO zu verstehen ist, erläutert Art. 2 Nr. 4 EuEheVO.

bb) Internationale Kindesentführung – Art. 10 EuEheVO –

Bei widerrechtlichem (Definition in Art. 2 Nr. 11 EuEheVO) Verbringen des Kindes von einem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat sowie bei Zurückbehalten des Kindes in einem anderen Mitgliedstaat (»Kindesentführung«) bleibt zunächst die internationale Zuständigkeit des Herkunftsmitgliedstaats aufrechterhalten. Damit ist den Gerichten des Staats, in dem das Kind sich befindet, die internationale Zuständigkeit vorerst entzogen (Sperrwirkung). Dies gilt für alle Entscheidungen zur elterlichen Verantwortung mit Ausnahme der Rückgabeentscheidung nach Art. 12 HKiEntÜ; für letztere ist der Vertragsstaat zuständig, im welchem das Kind sich seit der Entführung befindet (Art. 11 Abs. 1 und 2 EuEheVO, Art. 12 Abs. 1 HKiEntÜ).

  • Der Sorgeinhaber hatte seit einem Jahr Kenntnis vom mindestens einjährigen Aufenthaltsort des Kindes oder hätte diesen kennen müssen,
  • und bis dahin wurde kein Rückgabeantrag gestellt oder nach Rücknahme neu gestellt (Art. 10 lit.b) Abs. 1 und 2); oder ein Verfahren im Herkunftsmitgliedstaat wurde nach Art. 11 Abs. 7 abgeschlossen (Art. 10 lit. b) Abs. 3); oder ein Gericht des Herkunftsmitgliedstaats hat eine Entscheidung zur Sorge getroffen, ohne die Rückgabe anzuordnen (Art. 10 lit. b) Abs. 4).

cc) Prorogation – Art. 12 EuEheVO –

Abweichend von der Grundsatzanknüpfung in Art. 8 EuEheVO kann bei Vorliegen aller in Art. 12 normierten Voraussetzungen die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats als des Aufenthaltsstaats vereinbart werden (Prorogation). Dies ist in zwei Fällen möglich:

aaa) Gleichzeitige Anhängigkeit der Ehesache

Ist die Ehesache in einem Mitgliedstaat nach Art. 3 EuEheVO anhängig, kommt die Vereinbarung der Annexzuständigkeit des Ehegerichts für Verfahren, die die mit der Ehesache verbundene elterliche Verantwortung betreffen, in Betracht (Art. 12 Abs. 1 und 2). Die Voraussetzungen einer Prorogation bei gleichzeitiger Ansicht einer Ehesache sind folgende:

Mindestens einer der Ehegatten hat die elterliche Verantwortung für das Kind: im Rahmen der Zuständigkeitsprüfung stellt sich in kollisionsrechtlicher Hinsicht die Vorfrage, ob ein Ehegatte die elterliche Verantwortung für das Kind inne hat. Maßgebende Kollisionsnorm hierfür sind die Art. 15 ff. KSÜ, welche Art. 21 EGBGB auch dann verdrängen, wenn die internationale Zuständigkeit als solche nicht auf dem KSÜ beruht.

Das ausdrücklich oder schlüssig erklärte Einverständnis der Ehegatten oder sonstigen Träger der elterlichen Verantwortung in die Zuständigkeit der betreffenden Gerichte. Zudem muss die Vereinbarung der Zuständigkeit des aufenthaltsfremden Gerichts im Einklang mit dem Kindeswohl stehen. Letzteres ist im Zweifel dann gegeben, wenn das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem Drittstaat hat, der nicht Vertragsstaat des KSÜ  ist, und sich ein Verfahren in diesem Drittstaat als unmöglich erweist (Art. 12 Abs. 4).

Umstritten ist, ob die Zuständigkeit nach Art. 12 Abs. 1 u. 2 EuEheVO auch dann begründet wird, wenn eine Ehesache erst nach dem Verfahren auf elterliche Verantwortung, d.h. nachträglich anhängig gemacht wird.

bbb) Wenn Ehesache nicht anhängig: Wesentliche Bindung des Kindes an einen Mitgliedstaat

Ohne Anhängigkeit der Ehesache nach Art. 3 EuEheVO kann die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats als des Aufenthaltsstaats vereinbart werden, wenn das Kind zu diesem Staat eine wesentliche Bindung hat (Art. 12 Abs. 3). Dies kommt insbesondere dann in Betracht, wenn das Kind die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats besitzt oder einer der Träger der elterlichen Verantwortung dort seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Erforderlich ist einerseits das ausdrücklich oder schlüssig erklärte Einverständnis aller Verfahrensbeteiligten. Darüber hinaus muss die Zuständigkeitsvereinbarung im Einklang mit dem Kindeswohl stehen. Letzteres ist im Zweifel dann gegeben, wenn das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem Drittstaat hat, der nicht Vertragsstaat des KSÜ  ist, und sich ein Verfahren in diesem Drittstaat als unmöglich erweist (Art. 12 Abs. 4).

c) Verweisung

Unter bestimmten in Art. 15 EuEheVO geregelten Voraussetzungen kann das nach der VO eigentlich zuständige Gericht in Ausnahmefällen ein bei ihm anhängiges Verfahren zur elterlichen Verantwortung auf Antrag oder von Amts wegen an ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats verweisen, wenn dieses den Fall besser beurteilen kann. Dem muss mindestens eine Partei zustimmen. Die Verweisung ist für das Gericht des anderen Mitgliedstaats nicht bindend; die Zuständigkeit des verweisenden Gerichts endet erst, wenn das Gericht des anderen Mitgliedstaats sich für zuständig erklärt.

d) Einstweilige Maßnahmen

In dringenden Fällen kann das nach der EuEheVO an sich nicht zuständige Gericht eines Mitgliedstaats zum Schutz der Person eines im Inland befindlichen Minderjährigen oder in Bezug auf im Inland befindliche Vermögensgegenstände einstweilige Maßnahmen anordnen, die nach seinem innerstaatlichen Recht möglich sind (Art. 20 der VO). Trifft das eigentlich zuständige Gericht eines anderen Mitgliedstaats eine abweichende Entscheidung, tritt die angeordnete einstweilige Maßnahme außer Kraft.

Die internationale Zuständigkeit einstweiliger Maßnahmen kann also sowohl auf Art. 3-15 EuEheVO begründet werden als auch auf dem nationalen Recht über Art. 20 EuEheVO.

Stütz sich eine Maßnahme auf die internationale Zuständigkeit nach Art. 3-15 EuEheVO, richtet sich ihre Anerkennung und Vollstreckung nach der EuEheVO selbst, d.h. ist territorial nicht auf den Mitgliedstaat beschränkt, in dem sie erlassen wurde. Ergibt sich die internationale Zuständigkeit hingegen nur nach Art. 20 EuEheVO, ist ihr Wirkungskreis auf den Erlassstaat beschränkt.

e) Restzuständigkeit

Im Hinblick auf den zur elterlichen Verantwortung weit gefassten Anwendungsbereich der EuEheVO und die Grundsatzanknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes bleiben nur wenige Fälle, in denen sich aus ihr keine Zuständigkeit im Inland ergibt. Dies kommt nur bei gewöhnlichem Aufenthalt des Kindes im Ausland sowie dann in Betracht, wenn die Bundesrepublik Deutschland nach Art. 9 oder 10 EuEheVO als Herkunftsmitgliedstaat – vorübergehend – nicht zuständig ist. Ist in diesen Fällen die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats nach Art. 8 bis 13 EuEheVO gegeben, sind die deutschen Gerichte nicht zuständig.

Lediglich für den Fall, dass auch kein anderer Mitgliedstaat nach Art. 8 bis 13 EuEheVO international zuständig ist, gestattet Art. 14 EuEheVO den Rückgriff auf das autonome Recht. Im Verhältnis zur Türkei ist dies das MSA, ansonsten das nach § 99 Abs. 1 FamFG normierte innerstaatliche Recht

3. KSÜ

Am 01.01.2011 ist das Haager Kinderschutzübereinkommen (KSÜ) vom 19.10.1996 in Kraft getreten. Es ersetzt das MSA, soweit es sich um Mitgliedstaaten beider Übereinkommen handelt (Art. 51 KSÜ).Soweit der räumlich-personelle Anwendungsbereich des KSÜ nicht eröffnet ist und es sich um Kinder handelt, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in einem Mitgliedstaat der EU haben, geht die EuEheVO vor (Art. 61 EuEheVO, Art. 52 KSÜ).

Der sachliche Anwendungsbereich des KSÜ entspricht weitgehend der EuEheVO für den Bereich der Elterlichen Verantwortung, aber auch dem MSA, was Schutzmaßnahmen für ein Kind bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres anbelangt. Der räumlich-personelle Anwendungsbereich ergibt sich aus Art. 5, 74–10 KSÜ.

Als allgemeine Zuständigkeit ist gemäß Art. 5 KSÜ der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes maßgeblich. Wechselt das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt, sind die Behörden des neuen Aufenthaltes zuständig.  Für Flüchtlingskinder ist die allgemeine Zuständigkeit der Behörden des Aufenthaltsstaates gemäß Art. 6 KSÜ vorgesehen. Dies gilt auch für Kinder, bei denen der gewöhnliche Aufenthalt nicht ermittelbar ist.

Spezielle Zuständigkeiten ergeben sich aus Art. 8 und 9 KSÜ, die weitestgehend Art. 15 EuEheVO nachgebildet sind. Hiernach kann aufgrund eines Ersuchens (nicht aufgrund Verweisung) die Behörde eines Vertragsstaates zuständig werden, in dem das Kind nicht seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.

Art. 10 KSÜ sieht eine Annexzuständigkeit im Eheverfahren vor, wenn die Beteiligten die Zuständigkeit anerkennen und diese dem Kindeswohl entspricht. Daneben ist in Art. 11 KSÜ eine Eilzuständigkeit vorgesehen zum Schutz der Person oder des Vermögens des Minderjährigen, die nur für die Behörde des Staates besteht, in dem sich das Kind oder das Vermögen befindet. Liegt kein Eilfall vor, besteht aber dennoch Bedarf für Maßnahmen in einem Staat, in dem sich das Kind nur vorübergehend aufhält, regelt Art. 12 KSÜ die Zuständigkeit für vorläufige Maßnahmen.

4. Autonomes Recht

Autonomes Recht ist nur anwendbar, wenn keines der supranationalen Regelwerke in seinem spezifischen Anwendungsbereich greift und soweit Art. 14 EuEheVO dies zulässt.

Für nach dem 01.09.2009 eingeleitete Verfahren knüpft sich die internationale Zuständigkeit in Kindschaftssachen (vgl. § 151 FamFG) nach der Staatsangehörigkeit (§ 99 Abs. 1 Nr. 1 FamFG) oder dem gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes (§ 99 Abs. 1 Nr. 2 FamFG) oder an ein Fürsorgebedürfnis (§ 99 Abs. 1 Nr. 3 FamFG) an. § 99 Abs. 2 FamFG entspricht in Fragen der Vormundschaft der bisherigen Regelung in § 47 Abs. 1 FGG und in Fragen der freiheitsentziehenden Unterbringung den §§ 47 Abs. 1, 70 Abs. 4 FGG. § 99 Abs. 3 FamFG entspricht hinsichtlich der Vormundschaft § 47 Abs. 2 FGG und bezüglich der Genehmigung der freiheitsentziehenden Unterbringung §§ 47 Abs. 2, 70 Abs. 4 FGG. § 99 Abs. 4 entspricht hinsichtlich der Pflegschaft § 47 Abs. 3 FGG und hinsichtlich der Genehmigung der freiheitsentziehenden Unterbringung §§ 47 Abs. 3, 70 Abs. 4 FGG.

Soweit weder ein Kindesentführungsfall i.S.d. HKiEntÜ vorliegt noch die EuEheVO anwendbar ist, richtet sich die internationale Zuständigkeit für familien- und vormundschaftsgerichtliche Verfahren zur Sorge- und Umgangsregelung nach dem MSA. Mit Anwendbarkeit der EuEheVO ab dem 01.03.2005 kommt dies indes nur noch in wenigen Fällen in Betracht. Denn die EuEheVO gilt mit ihrem gegenüber der – gleichzeitig aufgehobenen – VO (EG) Nr. 1347/2000 erweiterten Anwendungsbereich für alle Verfahren, die Schutzmaßnahmen i.S.d MSA zum Gegenstand haben. Darüber hinaus beansprucht sie in ihrem Art. 12 auch Regelungskompetenz bei Aufenthalt des Kindes in einem Drittstaat. Raum zur Anwendbarkeit des MSA bleibt dann nur noch für zwei begrenzte Bereiche: Dies ist zum einen der Fall, wenn das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem Vertragsstaat des MSA hat, der kein Mitgliedstaat der EuEheVO ist, und dieser seine internationale Zuständigkeit nach Art. 1 MSA in Anspruch nimmt. Zum Anderen betrifft dies den Fall, dass ein Vertragsstaat gegenüber einem anderen Vertragsstaat, von denen nur einer Mitgliedstaat der EuEheVO ist, gem. Art. 4 MSA seine Zuständigkeit als Heimatstaat des Kindes geltend macht. Hier sind die auf dem MSA beruhenden Zuständigkeiten weiterhin zu respektieren. Ab dem 01.05.2004 kommt das nur noch im Verhältnis zur Türkei, da alle übrigen Vertragsstaaten des MSA auch Mitgliedstaaten der EuEheVO bzw. des KSÜ sind. Auf die Darstellung näherer Einzelheiten zum MSA wird deshalb in der Neuauflage verzichtet und auf die bisherigen Ausführungen in der Vorauflage verwiesen.